Teatime im Taunus
Artworks
Information
Sebastian Stöhrers Werk kann mit Recht als Schöpfung bezeichnet werden. Aus Ton – also im Grunde aus Erde – formt er seine „Bewohner“: farbenfrohe, freundlich wirkende Skulpturen-Wesen, teils mit an Extremitäten erinnernden Erweiterungen aus Stöcken oder Ästen. Sie kommen locker-humorvoll daher, sind aber keineswegs bloß das Produkt einer Eingebung oder Laune. Es bedarf jahrzehntelanger akribischer Erkundungen am Brennofen auf Grundlage der jahrtausendealten Töpferkunst sowie fundierter Kenntnisse der Chemie und Physik, um solche Farben und Formen zu schaffen. Stöhrer wird als Alchemist bezeichnet, und tatsächlich tritt er zur Ehrenrettung dieser forschenden Zunft, eine Vorläuferin der modernen Naturwissenschaften, an. Die Alchemie vereint wie Stöhrers Werk pure Vernunft mit dem Zufall und einem Fünkchen Magie. Der Künstler treibt ein intuitives, sinnliches Spiel mit der Tonerde und der kaum kalkulierbaren Farbigkeit der Glasuren – die Schöpfung trägt nun mal auch das Chaos, das Anarchische, Triebhafte in sich. Als ihre Verkörperung treten uns Stöhrers „Bewohner“ entgegen; als Abbilder, vielleicht auch als Boten einer künftigen gutmütigen Version unserer selbst.
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Beim ersten Anblick der Keramikskulpturen von Sebastian Stöhrer dachte ich an mikroskopische Aufnahmen von Mikroben, Organismen, die so klein sind, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht erkennen kann. Aus irgendeinem Grund schien es mir, als könnte es sich um unter Wasser lebende Lebewesen handeln. Als ich sie einige Monate später erneut betrachtete kamen mir Kreaturen aus Science-Fiction-Szenarien in den Sinn. In diesem Fall: Doc Labyrinths Bewahrungsmaschine, mit der sich Musikpartituren in Tiere verwandeln lassen. Es gibt ein Brahmsinsekt und ein Wagnertier und viele andere eigentümliche Organismen, zu Fleisch gewordene Künstlergenies. Philip K. Dick hat diese Maschine erfunden und es ist gut vorstellbar, dass er seine Geschichte mit Stöhrers Figuren hätte illustrieren wollen, wenn er sie gekannt hätte. Seine Fantasiewelten werden gewöhnlich von Lebensformen bevölkert, die den Kategorien, mit denen wir normalerweise das Reich des Lebendigen betrachten, nicht entsprechen. Wie es meistens bei erfolgreicher Science-Fiction der Fall ist, sind diese exzentrischen Wesen nicht nur sonderbar, sondern sie verkörpern auch etwas was für unsere Beziehung zur belebten Welt wesentlich ist: Wir können nicht sagen, warum sie lebendig wirken und wir wissen auch nicht, wo wir die Grenze zwischen lebend und tot ziehen sollen. Diese Unsicherheit verstärkt sich noch in unserer technologisch veränderten Umwelt, die von künstlichen Komponenten durchsetzt ist, die Natur gegeben zu sein scheinen. Wenn es um das Leben geht, gibt es also offenbar keine Gewissheiten.
Einige der relevantesten Werke der zeitgenössischen Kunst beruhen auf dem immer wieder zu beobachtenden Bestreben, die Dinge die uns umgeben zu durchdringen, wobei es scheint, als wäre Lebendiges häufig nicht wirklich lebendig und Totes nicht wirklich tot, was dazu führt, dass wir derlei Unterscheidungen grundsätzlich in Frage stellen. Ähnliche Beweggründe verbergen sich sicherlich auch hinter einigen besonders lautstarken philosophischen Denkansätzen unserer Zeit und nicht zuletzt hinter jenen neuen Formen des Materialismus, der unser Denken von der Fixierung auf den historisch überbetonten Bezug zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem bekannten Objekt befreien möchte. Vielmehr, so wird häufig argumentiert, sollten wir uns besser mit anderen ähnlich interessanten und vielversprechenderen Bezügen beschäftigen, die sich aus so vielen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zusammensetzen – technologisch als auch biologisch: etwa digitale Geräte und Quallen, oder intelligente Blumen.
Giorgio Agamben hingegen weist in "Mysterium disiunctionis", dem zentralen Kapitel eines kleinen Bandes über die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, darauf hin, dass jeder, der eine genealogische Erforschung des Begriffs "Leben" in der gegenwärtigen Kultur versuche, am Ende feststelle, dass es als solches niemals definiert wird. Vielmehr, so behauptet Agamben, würde diese unbestimmte Sache – das Leben – durch eine Reihe von Gegensätzen immer wieder artikuliert und unterteilt, um ihr in den Wissenschaften eine Funktion zuzuschreiben, ohne dass sie jemals tatsächlich definiert würde: "Es scheint so, dass in unserer Kultur das Leben dasjenige ist, was nicht definiert werden kann, aber gerade deswegen unablässig gegliedert und geteilt werden muss". [1] Einige der erfindungsreichsten Künstler der Gegenwart – und dazu zählt Sebastian Stöhrer – finden mit ihren Werken eine visuelle Entsprechung dieser theoretischen Ausführungen und bieten somit eine Neuinterpretation der Formen des Lebens und des Lebens der Formen, wie es uns umgibt. Stöhrers keramische Kreaturen unterscheiden sich jeweils voneinander, doch gehören sie offenkundig einer Familie an. Wo sie herkommen habe ich bislang nicht herausgefunden – aus den Tiefen des Meeres, von einem anderen Planeten oder aus einer Welt, die sich mit dem Vokabular der Science-Fiction beschreiben ließe. Eines ist jedenfalls sicher: Sie stehen an einer Schwelle, an der Schwelle zum Lebendigwerden.
Daniel Birnbaum
[1] Giorgio Agamben, Das Offene: Der Mensch und das Tier, Suhrkamp, Frankfurt 2003.